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inamo 84, Irak

Irak: Staatszerfall

inamo Heft Nr. 84
Jahrgang 21, Winter 2015, 74 Seiten
Dezember 2015

Mit Beiträgen von:

Stephan Rosiny, Achim Rohde, Karin Kneissl, Patrick Cockburn, Joost Hiltermann, Joachim Guilliard, Julia Joerin, Karin Mlodoch, Jürgen Rose, Sofian Philip Naceur, Ella Habiba Shohat, Noam Sheizaf, Amos Gvirtz, Aron Lund, Werner Ruf, Errol Babacan, Murat Çakır, Roman Deckert und Jörg Tiedjen.

Inhalte im Schwerpunkt

Irak 2015 – Zerfall eines künstlichen Gebildes?

Von Achim Rohde

Der Irak ist heute in vieler Hinsicht ein failed state. Das Land ist in drei Machtbereiche fragmentiert, deren Grenzen umkämpft sind: Einen irakischen Rumpfstaat im Zentrum und Süden des Landes unter nomineller Kontrolle der Zentralregierung in Bagdad, einen weitgehend autonomen kurdischen Proto-Staat in Nordirak sowie eine im Entstehen begriffene neue staatliche Struktur im Nordwesten Iraks und Teilen Syriens unter Kontrolle der u.a. aus Al-Qaida hervorgegangenen Jihadisten-Miliz des Islamischen Staates (IS). Die staatlichen Strukturen und Institutionen des Irak sind erodiert, das nach 2003 installierte politische System ist weitgehend dysfunktional, die politische Klasse korrupt und zerstritten, das ehemals vorbildliche irakische Bildungssystem in desaströsem Zustand, die auf Ölexport basierende Wirtschaft angesichts niedriger Weltmarktpreise und kriegsbedingter Hemmnisse auf Sinkflug, die Arbeitslosigkeit besonders unter jungen Leuten hoch.

 

Zerstörung des Irak im Namen des Erdöls

Von Karin Kneissl

Der Erste Weltkrieg ist im Nahen Osten noch nicht zu Ende gegangen, denn die politische Landkarte ist die unmittelbare Folge jenes großen Krieges. Die Briten nannten ihn zwar wegen seiner abschreckenden Grausamkeiten den „war to end all wars“, doch tatsächlich wirkt er bis in unsere Zeit hinein. Dies gilt ganz besonders für jene Nationalstaaten, die aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches entstanden. Dass einige dieser gegenwärtig von Kriegen gebeutelten Staaten angesichts eines grenzüberschreitenden Kalifats oder anderer geopolitischer Umwälzungen zerfallen könnten, sorgt seit geraumer Zeit für große Unruhe.

 

Der Aufstieg des ISIS und die Ursachen des Neuen Nahostkrieges

Tariq Ali im Gespräch mit Patrick Cockburn

Tariq Ali führt ein Gespräch mit Patrick Cockburn, einem  alterfahrenen Reporter und mutigen Journalist, der die Kriege der Vereinigten Staaten im Nahen Osten seit ihren Anfängen mit der Invasion in den Irak kritisch verfolgt und von der Region schon lange vor den Sanktionen gegen den Irak und den Golfkriegen berichtet hat. Jetzt befinden wir uns in einem kritischen Stadium, in dem sich eine neue Organisation herausgebildet hat.

Patrick Cockburn hat ein neues Buch unter dem Titel „Die Jihadisten kommen wieder“ (The Jihadis Return) geschrieben, eine erweiterte Abhandlung über die Entstehung des ISIS und seine Verbindungen zu der sunnitischen Bevölkerung im Irak sowie deren erwartbare Folgen für die Region. Zweifellos  hat diese Entwicklung eine neue Front in dem endlosen Krieg eröffnet, der zu einem einzigen Elend für die in der arabischen Welt heute lebenden Menschen geworden ist.

 

Irak: Krisenwarnung

ICG

Eine Protestwelle hat den Irak an den Rand noch tiefgreifenderer Konflikte gebracht. Premierminister Haider al-Abadi hat umfassende Reformen eingeleitet, um der Zuspitzung zu begegnen, dies jedoch in einer Weise, die die Lage eher verschärfen könnte. Eine grundlegende Kurskorrektur ist nötig, wenn er politisch überleben soll und wenn der Irak eine mögliche Machtübernahme durch das Militär verhindern will.

 

Irakische Schiiten ringen um politische Eigenständigkeit

Joost Hiltermann

Die politischen Positionen der verschiedenen schiitischen Akteure im gegenwärtigen Irak können unterschiedlicher – mitunter sogar konträrer – nicht sein. In seinem Überblick arbeitet Joost Hiltermann heraus, wie «innenpolitische» Kalküle und Strategien von Einschätzungen der regionalen Lage beeinflusst und sogar bestimmt werden. Vor allem dem Iran kommt eine sehr ambivalente Rolle zu: unabdingbare militärische Stütze und Schutzmacht der Schiiten im Irak, politisch dort, in der Region und international aber mit ureigenen Interessen unterwegs, sowie praktischer Konkurrent um den Anspruch auf die innere Führung der Schiiten.

Irak: einseitige Intervention des Westens verschärft Spaltung

Von Joachim Guilliard

Nachdem der „Islamische Staat im Irak und Levante“ (ISIL, englisch ISIS und arabisch Daesh) im Juni 2014 in einem rasanten Vorstoß weite Gebiete im Westen und Nordwesten des Irak unter seine Kontrolle bringen konnte, fokussierten die westlichen Regierungen ihren Blick auf die militärische Bekämpfung der grausamen Miliz, die sich mittlerweile nur noch „Islamischer Staat“ nennen lässt.

Kurdistan Irak: Kein Land in Sicht

Von Julia Joerin

Die Vision eines unabhängigen Kurdistans im Nordirak ist in den vergangenen Monaten weiter in die Ferne gerückt. Die Bedrohung durch den IS, der Streit um die Präsidentschaft Masoud Barzanis in Erbil sowie grosse Löcher im Finanzhaushalt haben die Autonome Region in eine Krise gestürzt. Die Lage ist deshalb so heikel, weil die Peschmerga keine einheitliche Armee bilden, sondern in Parteimilizen aufgeteilt sind, die entweder Barzanis KDP oder Talabanis PUK angehören. Darüber hinaus wird die Stabilität Irakisch-Kurdistans durch das Vorgehen der Türkei gegen die Kurden im eigenen Land und jenseits seiner Grenzen sowie durch die militärische Intervention Russlands in Syrien gefährdet.

 

Traumabewältigung und Empowerment –Anfal-Frauen in Kurdistan-Irak

Von Karin Mlodoch

Karin Mlodoch beschreibt die Situation der Frauen, welche die so genannten «Anfal»-Operationen des Baath-Regimes gegen die kurdische Bevölkerung im Irak des Jahres 1988 überlebt haben. Der Artikel basiert auf der psychologischen Langzeitstudie der Autorin zu Strategien der Traumabewältigung unter diesen Frauen (Mlodoch 2014) und Beobachtungen aus der Initiative «Erinnerungsforum Anfal» in der Stadt Rizgary, in der sich die Anfal-Frauen, also diejenigen, die die Anfal-Operationen des Baath-Regimes überlebt haben, für eine selbst gestaltete und verwaltete Gedenkstätte engagieren.

Inhalte im allgemeinen Teil

Deutschlands neue Wehrmacht

Von Jürgen Rose

Die »Transformation« der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zur weltweit einsetzbaren Interventionstruppe im Dienste nationaler Interessen.

 

ALGERIEN

Bouteflika im Aufwind – Inszenierter Machtkampf in Algier?

Von Sofian Philip Naceur

Der Machtkampf um die Nachfolge von Algeriens gesundheitlich angeschlagenem Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika ist entbrannt. Die Entlassung von DRS-Chef Mohamed Mediène ist dabei nur die jüngste Episode der konfliktreichen Neujustierung der Kräfteverhältnisse innerhalb des fragmentierten Machtgefüges, doch am herrschaftspolitischen Status Quo wird auch das neue Personal an der DRS-Spitze nichts ändern. Denn Armee, Geheimdienst und Bouteflikas FLN monopolisieren auch weiterhin die Macht in Algerien, labeln die jüngsten Personalwechsel dabei geschickt als „Demokratisierung“ der politischen Klasse und wappnen sich damit für eine Ära nach Bouteflika, denn das Entstehen eines politischen Vakuums nach dessen Ableben würde die Existenz des Regimes akut gefährden. Aus machtpolitischem Kalkül stellt „le pouvoir“ – so die im Land gängige Bezeichnung für das Regime – daher vorsichtshalber schon mal die Weichen für die Zeit nach seinem Tod und forciert eine entsprechende Personalpolitik.

 

Palästina/Israel

Eine Reise nach Toledo: 25 Jahre nach der Konferenz „Orientalische Juden und Palästinenser“

Von Ella Habiba Shohat

Vom 3. bis zum 5. Juli 1989 fand in der spanischen Stadt Toledo ein ungewöhnliches Treffen statt, über das in der Presse kaum berichtet wurde – „Judíos orientales y palestinos. Un diálogo para la paz árabe-israelí“ („Orientalische Juden und Palästinenser. Ein Dialog für den arabisch-israelischen Frieden“). Leila Shahid, die palästinensische Vertreterin in Toledo, drückte es so aus: „Ich glaube, was dieses Treffen von allen bisherigen unterscheidet, ist die Anwesenheit der größten Gruppe orientalischer Juden, die sich je mit einer PLO-Delegation getroffen hat.“

 

Israel hält immer noch alle Karten in der Hand

Von Noam Sheizaf

Die relative Ruhe vor Ort in den letzten Jahren, die von der Palästinensischen Autorität auf Israels Geheiß erzwungen wurde, ließ die Israelis glauben, sie könnten Frieden und Wohlstand genießen, ohne die Besatzung zu beenden. Doch….

 

Zur Situation der Beduinen im Negev

Von Amos Gvirtz

Wie andere Palästinenser, die in der Gegend lebten, in der der Staat Israel gegründet wurde, sind die meisten Beduinen zu Flüchtlingen geworden – ein Resultat der Flucht und Vertreibung während des Krieges 1948. Aber es gibt einen Unterschied: Der Staat Israel vertrieb die Beduinen noch während der folgenden zehn Jahre. Mehr noch: bis zum heutigen Tage macht der Staat Israel Beduinen, die innerhalb seiner Grenzen leben, zu internen Vertriebenen (manchen geschieht das mehrmals), indem er sie zwingt, in die Townships zu ziehen, in denen sie leben sollen. Mit anderen Worten: der Staat Israel hat den Waffenstillstand, der den Krieg 1948 beendete, niemals auf seine Beduinenbürger angewandt. Israel führt weiterhin seinen einseitigen Krieg gegen die Beduinen.

„Israel und die PA sind zwei Seiten derselben Medaille“

Interview mit Saeed Amireh

Der 24-jährige Saeed Amireh stammt aus Ni’lin im Westjordanland und ist eine wichtige Figur in der palästinensischen Bürgerrechtsbewegung. Schon in seiner Jugend mobilisierte er internationale Unterstützung, um die Kaution für die Freilassung seines Vaters und anderer politischer Häftlinge zahlen zu können. Aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen gegen die israelische Besatzung und die Mauer wurde auch Saeed selbst inhaftiert. Als Verfechter des gewaltlosen Widerstands tritt er regelmäßig auf Konferenzen in Europa auf. Am 8. Dezember 2015 beendete er seine letzte Vortragsreise durch Deutschland.

 

Syrien

Eine kurze Geschichte der FSA (Free Syrian Armies)

Von Aron Lund

Die Frage: Wer ist die FSA ist schon falsch gestellt. Korrekt wäre zu fragen: Wer sind die Freien Syrischen Armeen. Es gibt keine eindeutige Definition. Die FSA sind hochgradig fragmentiert, sie zerfallen, bilden sich neu, bilden Allianzen, die wieder auseinanderfallen. Auch die Versuche der FSA eine Struktur mit einer Militärführung zu verpassen schlugen fehl. Aron Lund versucht Klarheit in die Sache zu bringen.

TUNESIEN

„Säkularismus bedeutet nicht Bruch mit dem Islam“

Werner Ruf interviewt Prof. Dr. Iqbal Gharbi

Iqbal Gharbi hat an der Sorbonne in Paris Psychologie und Sozialanthropologie studiert und lehrt Psychologie und Philosophie an der Islamischen Universität Zituna in Tunis. Nach dem Sturz Ben Alis wurde sie Direktorin von Radio Zituna, eines Senders, der von den Islamisten zu einem ultra-konservativen Propaganda-Instrument transformiert wurde. Salafistische Gruppen verweigerten ihr den Zugang zu ihren Diensträumen, so dass sie ihr Amt nicht antreten konnte. Dabei versteht sie ihre akademische Lehre als Auftrag zur Heranbildung mündiger Bürgerinnen und Bürger und als Kritik am Fundamentalismus.

 

TÜRKEI

Grenzen des linken Populismus in der Türkei

Von Errol Babacan und Murat Çakır

Nach den Neuwahlen November 2015 ist die Enttäuschung in der linken und kurdischen Opposition der Türkei groß. Die AKP erzielte ein Ergebnis nahe an 50 Prozent, womit sie erneut über eine absolute Mehrheit verfügt. Die größte Oppositionspartei CHP erreichte das Ergebnis vom Juni, während die beiden anderen Oppositionsparteien MHP und HDP Verluste verzeichneten. Sie verloren jeweils einen Teil ihrer Wählerschaft an die AKP, schafften jedoch den Sprung über die Zehnprozenthürde.

 

WESTSAHARA

Westsahara – Chaos und Willkür seit über 40 Jahren

von Axel Goldau

Im Jahr 2015 jährten sich Ereignisse, die für die Westsahara, die letzte Kolonie Afrikas, noch immer von entscheidender Bedeutung sind: Bereits am 26. Februar vor 130 Jahren endete in Berlin die „Kongokonferenz“, als deren Folge die Westsahara spanische Kolonie wurde. Vor 40 Jahren setzte „der Westen“, vor allem vertreten durch Frankreich und die USA, alles daran, das Selbstbestimmungsrecht des saharauischen Volkes außer Kraft zu setzen und den nahtlosen Übergang von der alten Kolonialmacht, Spanien, zur neuen, Marokko, sicherzustellen. Ohne die massive Einmischung von außen, fände sich die Westsahara längst nicht mehr auf der UN-Liste der „fremdverwalteten Gebiete“.

SUDAN

Die Fronten verschieben sich

Von Roman Deckert

Auf den ersten Blick scheinen die politischen Verhältnisse im Sudan weiter im Stillstand zu verharren. Bei näherer Betrachtung zeigen sich jedoch neue Dynamiken, mit Chancen wie Risiken.

WIRTSCHAFTSKOMMENTAR

Guerillakrieg auf dem Sinai – Abenddämmerung für Ägyptens Tourismusindustrie

Von Sofian Philip Naceur

ZEITENSPRUNG

Unerträgliche Erinnerung: Der Fall Ben Barka

Von Jörg Tiedjen

Es war einer der größten Skandale Frankreichs und der traurige Höhepunkt der „bleiernen Jahre“ in Marokko: das „Verschwinden“ des marokkanischen Oppositionsführers und Freiheitskämpfers Mehdi Ben Barka am 29. Oktober 1965 in Paris. Bis heute dauern die Ermittlungen in diesem Jahrhundertfall der französischen Justiz an – bis heute wird seine Aufklärung verhindert: Frankreich weigert sich, Geheimdienstakten freizugeben, und Marokko, die Vernehmung der letzten Augenzeugen und Tatbeteiligten zuzulassen. Warum? Soll verschleiert werden, dass es der damalige marokkanische König Hassan II. höchstpersönlich war, der sich seines „Feindes Nummer eins“ entledigen wollte? Und was hat Frankreich zu verbergen? Wie hoch in der Hierarchie reichten Mitwisser- und Mittäterschaft, wie tief waren kriminelle Banden, rechtsextreme Terrorgruppen und der Staatsapparat miteinander verstrickt? Und hatten auch die USA und Israel ihre Hände im Spiel?