+49 (0)30 / 864 218 45 redaktion@inamo.de

Gastkommentar
Dietmar Loch: Postkolonialer Aufruhr in Frankreichs Vorstädten

Schwerpunkt: Marokko – Machtwechsel

Yasmine Berriane: „The Cool King“ und die Presse
Wandel des Bildes der Monarchie seit Amtsantritt von Mohammed VI.

Die seit Anfang der 90er Jahre durch Hassan II. und neuerdings durch seinen Sohn Mohammed VI. eingeleiteten Reformen zur Liberalisierung und Demokratisierung Marokkos haben bis heute weder institutionell noch verfassungsmäßig zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Statt dessen werden sie oft als Strategien einer Scheinliberalisierung bewertet. Doch selbst eine Scheinliberalisierung kann nicht ohne ein Minimum an „kontrollierten Freiheiten“ glaubhaft gemacht werden. Diese Mindestdosis führte im Land auf manchen Ebenen zu einer Entwicklung, die nicht im Sinne des königlichen Machtmonopols war. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist die Presse.

Sonja Hegasy: Junge Marokkaner und der König
Machtübernahmen in der arabischen Welt sind häufig von Befürchtungen begleitet, daß es zu Instabilität und gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen könnte. Politische Nachfolger werden selten aufgebaut. Die zweite Garde steht in fast allen arabischen Länder im Schatten der Amtsinhaber. Auch Mohammed VI. galt bis zu seiner Inthronisierung im August 1999 als politisch wenig geübter und auf internationalem Parkett relativ unerfahrener Prätendent. Viele Beobachter waren skeptisch, ob ihm eine friedliche Machtübernahme gelingen würde.

Bettina Dennerlein: Zwischen Politik und Selbstreflexion
Die Versöhnungskommission Instance Equité et Réconciliation

Am 10. April 2004 wurden durch königliches Dekret die Kommission Gerechtigkeit und Versöhnung, der Instance Equité et Réconciliation IER eingerichtet. Diese Wahrheitskommission, wie König Muhammad VI. sie selbst bezeichnet, ist ein in der arabischen Welt bisher einzigartiges Unterfangen. Der IER ist mittlerweile zu einem nicht mehr wegzudenkenden Impulsgeber und zu einem wichtigen Ort der kritischen Selbstreflexion der marokkanischen Gesellschaft geworden. Ob es sich bei dem IER allerdings um einen Schritt hin zu mehr Demokratie und Menschenrechten oder, um einen geschickten Schachzug des Königs handelt, muß sich erst zeigen. Fest steht allerdings schon jetzt, daß der Prozeß der kritischen Auseinandersetzung mit der jüngeren und jüngsten Vergangenheit als solcher deutliche Spuren in Kultur und Gesellschaft hinterlassen wird.

Stephanie Hennig: Religion, Recht, Politik
Reformen des marokkanischen Personalstatuts

Familienrecht ist in der arabischen Welt sehr umstrittenes Thema, denn dort spiegeln sich Idealvorstellungen von Geschlechterrollen und Familie wider. Es ist in vielen arabischen Ländern zudem der einzige Rechtsbereich, der auf dem Islam basiert, und eine Reform des Familienrechts wird als Indikator für die generelle Entwicklung einer Gesellschaft wahrgenommen: Wird ihre islamische Identität dadurch gestärkt oder geschwächt ?

Lutz Rogler: Islamistische Opposition und Demokratisierung
Mehr denn je zuvor scheint derzeit eine demokratische Zukunft Marokkos von der Entwicklung jener politischen Kräfte abzuhängen, die dem islamistischen Spektrum zugeordnet werden. Seit den siebziger Jahren zunächst im Untergrund, dann zunehmend auch in der Öffentlichkeit präsent, ist dieses Spektrum heute nicht nur sozial und kulturell tief in der Gesellschaft verankert, sondern trotz vielfältiger gemeinsamer doktrinärer Bezugspunkte organisatorisch und politisch-ideologisch weitaus heterogener als in anderen Ländern der Region.

Beat Stauffer: Vom „Wartesaal“ zur „Endstation“
Der Umgang mit Flüchtlingen aus den Sahelländern

Mit großangelegten Razzien, mit versuchten Rücktransporten an die marokkanisch-algerische Grenze und schließlich mit Rückführungen per Flugzeug versuchte Marokko das Problem der “Subsahariens” genannten Migranten und Flüchtlinge aus Schwarzafrika, in den Griff zu bekommen. Die Sicherheitskräfte wenden dabei unverhältnismäßig viel Gewalt an. Von Oktober bis Anfang November sind auf diese Weise mehr als 3000 Afrikaner aus verschiedenen Staaten in ihre Heimatländer zurückgeschafft worden. Darunter befanden sich auch anerkannte Flüchtlinge. Nach den vorliegenden Informationen ist der harte Kurs gegen die Migranten aus den Sahelstaaten von den obersten politischen Behörden beschlossen worden. Eine Mehrheit der Bevölkerung scheint diesen Kurs mitzutragen. Menschenrechtsorganisationen und oppositionelle Kreise üben hingegen harte Kritik. Sie werfen den marokkanischen Behörden vor, sich damit Europa als willigen Handlanger angedient und das Verhältnis zu den Sahelländern schwer belastet zu haben.

Irak
Sofortiger Rückzug der US-Truppen aus dem Irak?! Eine Debatte zwischen Juan Cole und Gilbert Achcar
Juan Cole ist Professor für Geschichte des Nahen Ostens und Südasiens an der Universität von Michigan. Er schreibt eines der interessantesten Weblogs (www.juancole.com) mit überwiegend Informationen und Beiträgen zum Irak. Gilbert Achcar ist Politikwissenschaftler (Schwerpunkt: Internationale Beziehungen) an der Universität 8 in Paris. Cole befürwortet den Rückzug der US-Bodentruppen aus dem Irak und plädiert gleichzeitig dafür, Luftwaffenstützpunkte in der Region zu belassen, um einen offenen Bürgerkrieg im Irak oder eine Destabilisierung der weiteren Region zu vermeiden. Gilbert Achcar dagegen argumentiert für einen sofortigen und vollständigen Abzug aller US-Truppen aus dem Irak. Coles Position ist die der klassischen International Relations: nüchtern, realistisch und machtorientiert. Cole vertritt eine Rückkehr zur US-amerikanischen Nah- und Mittelostpolitik der 70er und 80er Jahre, zum off-shore balancing. Angesichts der Bissigkeit der bisherigen Beiträge in seinem Weblog, fast ein intellektueller Offenbarungseid.

Palästina/Israel
Katrin Köller: Die Beduinen Israels – eine vergessene Minderheit
Das allgemeine Interesse am Konflikt in Palästina richtet sich hauptsächlich auf die Situation in den besetzten Gebieten und der diesbezüglichen Politik Israels.
Weniger Beachtung findet die Lage derjenigen Palästinenser, die als israelische Staatsbürger auf israelischem Territorium leben. Auch sie haben zu kämpfen: gegen die Diskriminierung und für die Anerkennung ihrer Rechte seitens Israels.

Bashir Abu Manneh: Koloniale Abkoppelung
„Colonial Disengagement“ als taktisches Manöver. Aufgabe der Siedlungen, da wo Versuche eine jüdische demographische Mehrheit zu schaffen zwecklos ist, bedeutet ein Schritt zurück, aber zwei nach vorn. Denn in der Westbank wird die Beschlagnahmung des Bodens weitergeführt, die Siedlungen expandieren. Weniger Gazastreifen, dafür mehr Westbank ist Sharons Devise. Wenn Maale Adumim stärker an Jerusalem angeschlossen wird, bedeutet das: Jerusalem wird dadurch von der Westbank abgeschnitten, indem ein Keil zwischen den nördlichen und südlichen Teil der Westbank getrieben wird. Somit werden Tatsachen geschaffen, die kaum mehr rückgängig zu machen sind, eine altbewährte zionistische Strategie. Die palästinensische Staatlichkeit rückt in weite Ferne. Wird es mehr geben als eine kommunale Autonomie?
Und der Gazastreifen? Dort wird Israel weiter die Kontrolle haben. Bashir Abu Mannehs Kritik ist schonungslos: nicht nur die israelische Strategie und Taktik wird kritisiert, sondern auch die eigenen Fehler und Schwächen des Befreiungskampfes.

Jemen
Iris Glosemeyer: Wie unruhig ist der Jemen?
Selbst unter Kennern der Region beschränkt sich das Interesse am Jemen meist auf drei Aspekte: die beeindruckenden touristischen Attraktionen des Landes, Terroranschläge (z.B. Flugzeugträger Cole 2000 und Öltanker Limburg 2003) und nicht näher benannte „Unruhen“. Seit Sommer 2004 kommt es wieder vermehrt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Demonstranten oder bewaffneten Gruppen. Die unterschiedlichen Hintergründe der unter dem Begriff „Unruhen“ subsumierten Vorfälle sollen im folgenden näher betrachtet werden. Sind sie Vorboten einer Destabilisierung des Landes oder wenig überraschende Folgen dramatischer wirtschaftlicher und politischer Veränderungen?

Medien
Ali al-Atasi: Der Fall Taysir Alluni
Vor etwa drei Jahren begann das Verfahren der spanischen Justiz gegen den al-Jazira-Korrespondenten Taysir Alluni, der wegen des Vorwurfs der Zusammenarbeit mit einer terroristischen Organisation mittlerweile verurteilt wurde. Der in Qatar ansässige TV-Sender mobilisierte die Öffentlichkeit nach Kräften für seinen Korrespondenten und startete eine internationale Kampagne für seine Freilassung, an der sich ungefähr 30 NGOs beteiligten. Zudem bildete sich ein internationales Komitee zur Solidarität mit Alluni, das mit Symposien um Unterstützung für den verurteilten Journalisten warb.

MEMRI Dokumentation
Mohammed El Oifi: Mittler oder Zensor
MEMRI, das umstrittene Informationsbüro

In der Septemberausgabe 2005 von Le Monde Diplomatique erschien der Beitrag „Desinformation a l’israélienne“ von Mohammed El Oifi. Eine deutsche Übersetzung des Artikels erschien im Oktober in der Schweizer-deutschen, nicht jedoch in der bundesdeutschen Ausgabe. Auf Anfrage teilte die Berliner Redaktion mit, daß jeden Monat eine gemeinsame Auswahl aus der französischen Zeitung publiziert werde, „daß jedoch speziell für die bundesdeutsche Öffentlichkeit eigene Schwerpunkte gesetzt und entsprechend auch einzelne Texte entfallen und eigene Texte hinzugefügt werden. Deshalb hat der Beitrag‚ MEMRI, das umstrittene Informationsbüro für arabische Angelegenheiten’ in der bundesdeutschen Oktober-Ausgabe entfallen müssen.“
Nachfolgend bringen wir die deutsche Fassung, wie sie in der Schweizer Ausgabe von LMD abgedruckt war. Die Pariser Redaktion bekam postwendend nach Erscheinen ihrer Ausgabe einen Brief von Yigal Carmon, dem Präsidenten MEMRIs (siehe Seite 48 in dieser Ausgabe).

Schirin Fathi: MEMRI.org – a tool of enlightenment or incitement?
In der Vergangenheit haben wir wiederholt über MEMRI, das Middle East Media Research Institute berichtet und auf die Diskrepanz zwischen MEMRIs Arbeit und Selbstbeschreibung hingewiesen. Der Versuch, durch Selbstbezeichnung als »Institut« und durch »wissenschaftlich« aufgemachte Publikationen, Objektivität zu beanspruchen, verdeckt den eigentlichen Charakter MEMRIs als Public-Relations-Maschine und Lobbyorganisation für neo-liberale, neo-konservative, aber vor allem anti-islamische und anti-arabische Interessen. Im folgenden Text geben wir stark gekürzt und aus dem Englischen übersetzt, den Vortrag von Schirin Fathi wieder, in dem die Hamburger Nahost-Wissenschaftlerin im Rahmen der Veranstaltung „Orientalism and Conspiracy“ (siehe Kasten) MEMRI vorstellt und die kritischen Positionen resümiert. Der Beitrag erscheint vollständig zusammen mit den anderen Beiträgen des workshops in einem Sammelband.

Schirin Fathi: Orientalism and Conspiracy

Musik Damaskus
Norbert Mattes: Adil az-Zaki, der Musiksammler (1925 – 2005)
Adil az-Zaki wurde 1925 geboren, am 5. August 2005 ist er in Damaskus gestorben. Er widmete sein Leben dem Sammeln von Musikaufnahmen und dem Archivieren. Bis zu seinem Tode befand sich der größte Teil seiner Sammlung im Kellergeschoß des kleinen Musikgeschäftes im Geschäftszentrum Shaalan in Damaskus. Heute führt al-Mudir, der Direktor, wie er seinen Sohn nannte, das Erbe des Vaters fort. Das Kellergeschoß wurde aufgegeben, die Sammlung befindet sich jetzt im Hause Zaki, nur ein kleiner Laden auf ebener Erde ist geblieben, der nichts mehr von der großen Sammlung und der Leidenschaft des Sammlers Adil az-Zaki ahnen läßt. Bei den Musikinteressierten ist das wohl einmalige Privatarchiv in der arabischen Welt bekannt: die Brüder Rahbani – die Komponisten der Sän-gerin Fayruz – haben bei ihm nach alten Aufnahmen von Fayruz gesucht; die Vertreter des ägyptischen Projektes zur Erforschung der Musik der Sängerin Naima al-Misriyya, haben vor einigen Monaten ebenfalls das Archiv kontaktiert.

Damaskus Stadtentwicklung
Hikmat Chatta: Damaskus vergewaltigt seine Altstadt
Vor acht Jahren hat sich Hikmat Chatta entschieden, in die Altstadt von Damaskus zu ziehen und dort zu arbeiten. Als Architekt, der sich des kulturellen Werts dieser Architektur „bewußt“ ist, erschien ihm dieser Schritt notwendig, insbesondere angesichts des Niedergangs der modernen Architektur in Syrien. Seine Entscheidung versteht er auch als eine Flucht vor einer beschämenden Gegenwart in eine noble Vergangenheit, die ihn auf eine Entdeckungsreise in das architektonische Erbe der Stadt geführt hat. Anlaß für den folgenden Text ist die Ankunft eines neuen Nachbarn, der ein großes Haus im Viertel gekauft hat und erklärte, dieses in ein Restaurant zu verwandeln. Wenige Stunden nachdem die neuen Besitzer mit der „Restaurierung“ begonnen hatten, waren die Fenster, Türen und Wandverkleidungen herausgerissen und entsorgt. Mit ihnen verschwanden Erinnerungen, historisches Material ging verloren.

Wirtschaftskommentar
Steffen Hertog: Asien und der Nahe Osten: ein geo-ökonomischer Paradigmenwechsel
Ginge es nach der Demographie, gehörten die Staaten des Golfkooperationrats (GCC) auf der arabischen Halbinsel mehr als nur geographisch zu Asien: Etwas mehr als dreißig Millionen Arabern stehen 12 Millionen „Gastarbeiter“ gegenüber, die zu einem großen Teil aus Indien, Pakistan, Bangladesch, Indonesien und von den Philippinen kommen. Doch von den Arbeitsmigranten abgesehen waren die Beziehungen zwischen Golf und Asien in den letzten Jahrzehnten recht beschränkt.
Das war in vergangenen Jahrhunderten anders: Die Handelsverbindungen zwischen Indien und der Ostküste der arabischen Halbinsel waren eng, viele der Händler in der Golfregion kamen aus Indien und viele arabische Handelsfamilien hatten Dependancen in Mumbai und anderen Städten Südasiens.
Der mächtige erste saudische Finanzminister Abdallah Sulaiman lernte das Rechnen als Kontorist in Indien, und mehrere große Familien – Batterjee und Jashanmal (in Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain und VAE) etwa – haben indische Wurzeln.

Zeitensprung
Norbert Mattes: 25. November 1940 – Explosion auf der SS Patria
Im September 1940 flüchteten ungefähr 3000 Juden aus Prag, Wien und Danzig in Richtung Palästina. Auf vier Donaudampfern fuhren sie im Konvoi zu dem rumänischen Hafen Tulcea, und von dort auf den drei griechischen Cargoschiffen Atlantic, Pacific und Milos in Richtung Palästina. In palästinensischen Gewässern wurden sie am 11. November von den Engländern angehalten und in den Hafen von Haifa gebracht. Dort lag bereits die SS Patria, auf die jetzt alle Flüchtlinge gebracht wurden. Als die letzten Flüchtlinge von der Atlantic auf die Patria gewechselt waren, gab es am 25. November 1940 eine gewaltige Explosion, die die Patria aufriß und sinken ließ. Ungefähr 200 Menschen kamen dabei ums Leben.

Ex Libris
Werner Ruf:Bensedrine, Sihem/Mestiri, Omar: „Despoten vor Europas Haustür.“
Werner Ruf: Dietmar Loch: „Jugendliche maghrebinischer Herkunft zwischen Stadtpolitik und Lebenswelt.“
Christopher Hayes: Robert A. Pape: „Dying to Win.“
Christopher Hayes: Daniel Ross: „Violent Democracy.“

//Nachrichten/Ticker//