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Seit Monaten ist Falludscha hermetisch abgeriegelt, die Vorräte sind weitgehend aufgebraucht. Die Lage der verbliebenen knapp 100.000 Bewohner ist verzweifelt. Sie sitzen fest und es gibt keine sichere Route, um zu entkommen. Am 23 Mai startete schließlich die irakische Armee zusammen mit schiitischen Milizen und unterstützt von der US-Luftwaffe die Offensive zur Rückeroberung der nur 50 Kilometer westlich von Bagdad am Euphrat liegenden Großstadt.
Die Regierungstruppen waren im Januar 2014 durch einen Volksaufstand aus der Stadt gejagt worden, nachdem sie erneut ein Protestcamp mit blutiger Gewalt aufgelöst hatten. Die Kontrolle übernahm ein Militärrat, die Einheiten des „Islamische Staat“ (IS) wurden zunächst an den Stadtrand verbannt. Das irakische Regime unter Nuri al Maliki verweigerte jegliche Verhandlungen mit den Repräsentanten der Stadt, in der damals mehr als 300.000 Menschen lebten, und ließ sie unter Beschuss nehmen. Die Bürger Falludschas hatten für die Dschihadisten nichts übrig, diese halfen jedoch, die Angriffe der Armee zurückzuschlagen. Im Zuge seines Vorstoßes in den Westen Iraks übernahm der IS im Frühsommer 2014 auch in Falludscha die Kontrolle.

Falludscha ist vermutlich die irakische Stadt, die am stärksten von Krieg und Besatzung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Nach dem zweiten Großangriff US-amerikanischer Truppen im 2004 waren siebzig Prozent aller Gebäude verwüstet. Die Stadt wurde zum „Guernica der arabischen Welt“. [[Es folgten ein enormer Anstieg von Fehlgeburten und Missbildungen sowie eine Vervielfachung diverser Krebserkrankungen ‒ mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Folge der Kontaminierung durch den massiven Einsatz von Uranmunition und anderer giftigen Waffen, wie weißem Phosphor. ]]
Falludscha droht nun erneut, wie zuvor Tikrit und Ramadis, die Zerstörung und Racheaktionen der Angreifer. Einige der kampfstärksten schiitischen Milizen, wie die berüchtigten Badr-Brigaden, stehen dem IS an Brutalität kaum nach (siehe Unter Belagerung ‒ Die irakische Stadt Falludscha wird ausgehungert und bombardiert, junge Welt, 01.06.2016).
Mit solchen zerstörerischen Angriffen kann der IS nicht besiegt werden. Stattdessen wird der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten weiter angeheizt. Jürgen Todenhöfer fordert daher in einem offenen Brief an Obama : „Nicht schon wieder Falludscha! ‒ Barack Obama hören Sie auf, den sunnitischen Irak platt zu bomben! Das sind Kriegsverbrechen!“

„Niemand sollte Zweifel daran haben, was geschehen wird, wenn Falludscha ‚befreit‘ wird,“ warnt der irakische Wissenschaftler Tallha Abdulrazaq vom Strategy & Security Institute der University of Exeter. „Konfessionelle Säuberung ist ein etabliertes Programm im Irak,“ (The annihilation of Iraq’s Fallujah is not only about defeating IS, Middle East Eye, 1.6.2016). Für ihn zeigt sich im Schweigen der „internationalen Gemeinschaft“ angesichts der Gräueltaten schiitischer Milizen an Sunniten, erneut: „Irakisches Blut ist noch billiger, als das von Syrern und Palästinensern.“

Während sich in der irakischen Hauptstadt eine starke oppositionelle Bewegung gegen das unter US-Besatzung entwickelte Regime entwickelt, die sich nicht zuletzt gegen dessen sektiererische Ausrichtung und die Spaltung des Landes entlang ethnischer und konfessioneller Linien richtet, beteiligt sich der Westen weiterhin an einem Krieg, der sich keineswegs nur gegen den „Islamischen Staat“ richtet, sondern gegen weite Teile der sunnitischen Bevölkerung. Er bemüht sich beim Kampf gegen den IS genauso wenig wie Bagdad um eine klare Trennung zwischen den Dschihadisten und den aufständischen sunnitischen Kräften. Letztlich setzt er, wie Todenhöfer richtig bemerkt, seine Politik des „Teile und Herrsche“ fort.
Auch in den Mainstream-Medien setzt sich die Erkenntnis durch, dass Offensiven, wie gegen Falludscha kontraproduktiv sind.

„Schlacht um Falludscha: Der IS geht, neue Unterdrücker kommen“ schreibt Spiegel Online am 09.06.2016. „Was wäre, wenn der „Islamische Staat“ im Irak besiegt würde? Frieden? Unwahrscheinlich. Das zeigt sich beim Kampf um Falludscha: Dort fürchten die Menschen die nahenden Befreier.“
„Schiitische Milizen rücken in den von Sunniten bewohnten Ort vor. Augenzeugen berichten von Plünderungen, Folter und Mord. Die Schlacht um Falludscha zeigt, dass nach einem Sieg über den IS ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Konfessionsgruppen schwierig wird.“
„Verloren schon vor dem Sieg – Bagdad zahlt für Falludscha hohen Preis“ titelt n-tv am 13.6.2016 „Ende Mai bläst die irakische Armee zum Angriff auf die IS-Hochburg Falludscha. Es folgt ein politisches Desaster: Die Dschihadisten verschanzen sich, während mit der Armee verbündete schiitische Milizen sich an sunnitischen Zivilisten vergehen.“

Falludscha: Ein Geschenk für den „Islamischen Staat“ meint Christoph Ehrhardt in der FAZ vom 9.6.2016 „Die Rückeroberung der irakischen Stadt Falludscha vom IS droht im Chaos zu versinken. Die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg sind gescheitert. Mit jedem Tag verliert die Regierung zunehmend das Vertrauen der Bevölkerung. (J.G. inamo)