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Nach den Anschlägen in London
Gastkommentar von Oliver Fahrni

Der Völkermord an den Armeniern: Anerkennung und Leugnung
Von Corry Görgü
Der 24. April 1915 – Beginn der Verhaftung armenischer Würdenträger und Intellektueller in Istanbul, gilt als Auftakt des Völkermords, dem während und nach dem Ersten Weltkrieg etwa 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen. Über den Genozid sind in jüngster Zeit mehrere umfassende Publikationen vorgelegt worden, weshalb in diesem Heft nicht die historischen Ereignisse im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage, weshalb die armenische Katastrophe international bis heute weitgehend ignoriert wird, obwohl während der Ereignisse zahlreiche Diplomaten, Missionare, Ärzte und Zeitungen über die systematische Ermordung des armenischen Volkes berichteten, die Fakten also der Weltöffentlichkeit bekannt waren.

Vor dem Erwachen : Das nationale Traumbild «Armenier»
Von Hans-Lukas Kieser

Auch wenn die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern kein explizites Kriterium einer künftigen Mitgliedschaft ist, hat die Annäherung der Türkei an die EU, internationaler Druck und eine wachsende kritische Öffentlichkeit dieses Thema im Frühjahr 2005 in der Türkei in einem bisher nie dagewesenen Ausmaß in den Mittelpunkt rücken lassen. Erstmals kamen mehrfach «alternative», der staatlichen Leugnungs- und Rechtfertigungsversion widersprechende Stimmen in den Medien zu Wort. Diese Entwicklung hat ihre innere Logik: Ein seit den 1970er Jahren in der Dauerkrise befindliches Land kommt aus ureigenem Interesse nicht darum herum, seine Identität und damit seine Geschichte neu und verheißungsvoller als bisher zu verstehen. Der wundeste Punkt dabei ist der Armeniermord in der Gründungsphase (1913–23) des türkischen Nationalstaats.

Debatte um den Völkermord an den Armeniern
Von Toros Sakarian

Ein in Deutschland längst vergessener Völkermord ist überraschend auf die Tagesordnung des Bundestags gekommen und hat für ein Verstimmung in den deutsch-türkischen Beziehungen gesorgt: Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich.
Im Oktober 1914 beschossen türkische Kriegsschiffe unter dem Kommando eines deutschen Offiziers die russischen Häfen im Schwarzen Meer. Dies führte kurz darauf unweigerlich zur russischen Kriegserklärung an das Osmanische Reich. Armenien war damals zwischen Rußland und dem Osmanischen Reich aufgeteilt, wobei der größere Teil sich unter türkischer Herrschaft befand. Zu den wesentlichen Kriegszielen des extrem nationalistischen Regime des jungtürkischen “Komitees für Einheit und Fortschritt” gehörte einerseits die ethnisch-religiöse Homogenisierung Kleinasiens und andererseits die Herstellung einer Verbindung zu den Turkvölkern im Kaukasus und Mittelasien.

Kasten: Johannes Lepsius und die Akten des Auswärtigen Amtes Historiker in nationalen Diensten

Zur wissenschaftlichen Debatte um Leugnung und Anerkennung
Von Corry Görgü

Bezogen auf internationale Diskussionen um „Anerkennung“ des Genozids an den Armeniern wird von türkischer Seite häufig gefordert, die Beurteilung der „historischen Ereignisse“ Wissenschaftlern – Historikern – zu überlassen. Dieser auf den ersten Blick einleuchtende Vorschlag ist aus verschiedenen Gründen fragwürdig. Zum einen werden Völkermorde nicht von Historikern geplant oder durchgeführt, sondern von Politikern, Militärs und „ganz gewöhnlichen Männern“. Aufarbeitung, Verurteilung und Verhinderung von Genoziden ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Zum zweiten entbehrt der Verweis auf die scheinbar „objektiven Wissenschaften“ durch die türkische Politik nicht einer gewissen Tragikomik: Wie kaum ein zweiter zensiert und gängelt der türkische Staat die Arbeit von Forschung und Lehre, wichtige türkische Archive sind der Forschung verschlossen, staatliche Institute werden zu nationalen Propagandazwecken funktionalisiert und verschicken Traktate zur „Aufdeckung armenischer Lügen“ an Universitäten und politische Institute in aller Welt.

Die israelische Debatte über den Völkermord an den Armeniern
Von George Hintlian

Am 7. April 2005 fand im Van Leer Institut ein internationales Symposium unter Beteiligung armenischer und israelischer Historiker statt. Unter den israelischen Historikern waren der Dekan der Holocaust-Studien Yehuda Bauer, der Direktor des Instituts für Holocaust- und Völkermord-Studien Israel Charny, Professor Yair Auron und andere vertreten. Von armenischer Seite her nahmen Experten für den Völkermord am armenischen Volk aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland teil. Das war die erste Veranstaltung dieser Art in einer israelischen akademischen Einrichtung seit 25 Jahren. Außer diesem Treffen fanden ähnliche Veranstaltungen an der Hebräischen Universität und im Hörsaal des armenischen Seminars statt.

90. Jahrestag des Genozids: Erinnerung an die Hilfe der arabischen Beduinen
Von Katrin Adolph und Karin Pütt

Bis Oktober 1915 wurden etwa 300 000 Deportierte über Aleppo in das dünn besiedelte Gebiet zwischen Deir ez-Zor am Euphrat und Mossul am Tigris getrieben. Im Frühjahr 1916 kam es zu organisierten Massentötungen. Heute findet auf einem Hügel in der syrischen Steppe jedes Jahr im April eine Messe zum Gedenken der Opfer statt. In Deir ez-Zor selbst wurde vor einigen Jahren eine Gedenkstätte errichtet. Dorthin wurden dieses Jahr zum ersten Mal Beduinenscheikhs eingeladen und geehrt, weil sie Tausende armenischer Kinder vor dem Tod gerettet hatten. Aleppos armenische Community ist gegenwärtig sehr engagiert, einen Prozeß des Erinnerns an die gemeinsame armenisch-arabische Geschichte anzustoßen.

Mentalitäten: Armenien und die Diaspora
Von Tessa Hofmann

Der Wechsel geographischer Benennungen und Zuordnungen zeigt stets den Wandel politischer Bezugsgrößen und damit verbundener Sichtweisen an. Nach dem Völkermord waren die Grenzen des Armenischen Hochlandes ausradiert worden, an die Stelle von West- bzw. Türkisch-Armenien trat, auch im Ausland, die Bezeichnung Ostanatolien. Das verbliebene Armenien wurde 70 Jahre lang Transkaukasien zugeordnet (wie Georgien und Aserbeidschan). Denn aus europäischer bzw. russischer Sicht lagen diese Länder jenseits des Kaukasus. Nach der Selbstauflösung der UdSSR setzte sich in Europa und den USA die Regionalbezeichnung Kaukasus bzw. Südkaukasus durch, eine nur scheinbar neutrale und neue Zuordnung. Tatsächlich geht sie auf türkisch-nationalistische Vordenker an der Wende zum 20. Jahrhundert zurück, die damit den Begriff Armenisches Hochland oder den auf die russisch-eurozentristische Perspektive verweisenden Begriff Transkaukasien ersetzen wollten. Die postsowjetische Zuordnung Armeniens zu (Süd-)Kaukasien bezieht sich also auf ein politisches Programm und weniger auf geographische, kulturelle oder historische Tatsachen.

Die syrische Presse und die Armenier: Eine Lektion aus der Vergangenheit
Von Ahmad Hissou

Ausgerechnet die armenische Frage war u.a. ein Grund für die Schließung der ersten arabischen Wochenzeitung, die unter der Leitung des großen Denkers der arabischen Renaissance, Abdarrahman al-Kawakibi, in Aleppo herausgegeben wurde. In der 1877 gegründeten Zeitung „al-Shahba“ veröffentlichte er seine Gedanken zu Reformen, gegen Tyrannei und für die arabische Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich, wofür er 1902 in seinem Kairoer Exil mit dem Leben bezahlte. Die Schließung der Zeitung nach der zweiten Ausgabe geschah kurioserweise wegen einer eher gewöhnlichen Meldung: Sechs junge Armenier, die ihren Militärdienst hatten leisten wollen, seien wegen ihrer armenischen Namen abgelehnt worden. Die zuständigen Behörden hätten sie aufgefordert, ihre Namen zu ändern. Doch ein Denker wie al-Kawakibi konnte nicht seinen Blick vor der Ungerechtigkeit verschließen, die die Völker dieses Imperiums und besonders die Armenier erlitten.

ALLGEMEINER TEIL

Malta
Ihr Araber sprecht ja wie wir!
Von Armin Köhli

Die katholische Bastion Malta hat arabische Fundamente. Wäre das Land besser der Arabischen Liga beigetreten als der Europäischen Union? Israel/Palästina

Akademischer Boykott und die israelische Linke
Von Omar Barghuti und Lisa Taraki

Nicht zuletzt als Reaktion auf die immer dominanter werdende zerstörerische und menschenverachtende Gewalt der Besatzung, aber auch – in sehr viel geringerem Umfang – seitens der Besetzten, hat sich in der palästinensischen Zivilgesellschaft und im akademischen Sektor eine neue Bewegung herauskristallisiert, die den Widerstand gegen die Besatzung durch einen Boykott fortzusetzen versucht. Palästinensische Akademiker rufen zu einem Boykott israelischer Universitäten auf, fast sämtliche Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft fordern die internationale Zivilgesellschaft und ihre Organe auf, ihren Boykott von Israel durch aktive Teilnahme zu unterstützen (Seite 33). Damit schließt die palästinensische Gesellschaft zum ersten Mal dezidiert an eine Reihe erfolgreicher historischer Modelle an, zuletzt den Boykott Süd-Afrikas.

Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken
Von Shamai Leibowitz und Yehudith Harel

Die Entscheidung der Britischen Hochschullehrervereinigung (AUT) vom 26. Mai, ihre frühere Boykotterklärung gegen zwei israelische Universitäten zurückzuziehen, erfordert eine Reaktion israelischer Menschenrechts- und Friedenaktivisten. Die Autoren dieses Beitrags zählen sich zu dieser Bewegung und halten es zum gegenwärtigen Zeitpunkt für angebracht, ihre Unterstützung eines umfassenden Boykotts zu bekräftigen und ihre Kollegen an den Hochschulen und anderswo zu bestärken, dem Druck nicht nachzugeben, sondern die Anstrengungen zur Umsetzung des Boykotts der mit der Besatzung verstrickten israelischen Institutionen zu verstärken.

9. Juli 2005:
Die Palästinensische Zivilgesellschaft ruft auf zum Boykott

Usbekistan
Blutbad in Andijan
Von Andrea Berg
Am 13. Mai 2005 ließ die usbekische Regierung in der Stadt Andijan im Ferghana-Tal Hunderte Zivilisten, die an einer Demonstration teilgenommen hatten, durch Regierungstruppen ermorden. Trotz des internationalen Drucks weigert sich Präsident Islam A. Karimov bis heute, eine unabhängige internationale Untersuchungskommission ins Land zu lassen. Die Lage in Usbekistan scheint derzeit ruhig, aber diese Ruhe ist trügerisch. Beobachtern ist klar, daß die Ereignisse in Andijan nicht die letzten blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung auf der einen und der Bevölkerung und oppositionellen Gruppen auf der anderen Seite waren. Die derzeit wohl am häufigsten gestellten Fragen sind, ob und wie lange sich Karimov noch an der Macht halten kann und welche Entwicklung Usbekistan in den kommenden Monaten nehmen wird.

Ökonomie
Golf-Obstruktionsrat?
Von Steffen Hertog

Auf den ersten Blick sieht es aus wie das übliche Gezanke am Golf: Saudi-Arabien will Qatar und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) verbieten, eine Brücke zu bauen, die angeblich sein Territorialgewässer durchqueren würde. Der neue Herrscher von Abu Dhabi, Sheikh Khalifa, wärmt einen Territorialkonflikt mit Saudi-Arabien auf, der eigentlich seit 1974 als gelöst galt. Der Emir von Qatar, in saudischen Augen wegen des Senders al-Jazira ein lästiger Störenfried, entzieht mehreren Tausend seiner Untertanen die Staatsbürgerschaft, was Saudi-Arabien politisch auszuschlachten versucht. Die kuwaitische Gerontokratie versucht, das Durcheinander zu schlichten.
Eifersüchteleien und gegenseitige Nadelstiche hat es unter den ungleichen Partnern im Golf-Kooperationsrat (GCC) schon gegeben, bevor diese überhaupt eigenständige Staaten wurden. Und doch deutet die jüngste Welle an Kabbeleinen auf mehr hin als das Tagesgeschäft einer relativ jungen Regionalorganisation mit „schwieriger“, heterogener Mitgliedschaft.

Literatur
Gebrochene Perspektiven – Die Romane des Schriftstellers Yitzhak Laor
Von Sigrid Brinkmann

Yitzhak Laor, geboren 1948, lebt in Tel Aviv. Er schreibt Gedichte, Prosa und Essays. Laors umfassendes Werk ist in Israel mit allen renommierten Preisen ausgezeichnet worden. Das politische Tagesgeschehen und intellektuelle Doppelzüngigkeiten kommentiert er in der Tageszeitung Ha‘aretz, in der London Review of Books, in Counterpunch. In INAMO, Heft 40, reflektiert Laor die Tatsache, daß israelische Schriftsteller in israelischen Medien eher bellizistisch argumentieren, während sie in Europa über „Frieden ohne Politik“ reden. Die westliche Presse wiederum reduziere die gravierenden Differenzen selbstgefällig auf eine Affäre von „Streithähnen“. Seit Januar 2005 gibt Yitzhak Laor die von ihm gegründete Zeitschrift für Literatur und radikales Denken, Mita‘am, heraus. Ins Deutsche übersetzt wurden sein gattungssprengendes Epos „Steine, Gitter, Stimmen“ (Unionsverlag 2003) und der Roman „Ecce Homo“ (UV, 2005). „Das Volk, Futter für Könige“ ist Laors erster, 1993 in Israel erschienener Roman.

Das Volk, Futter für Könige
Von Yitzak Laor

Debatte
Der Holocaust, die Getreuen und der Rückzug
Von Stephen Langfur

Der Disengagement Plan sieht die Evakuierung von über 7500 Siedlern aus ihren 21 schwer befestigten Siedlungen im Gazastreifen vor und mehrere Hundert aus vier Siedlungen im nördlichen Westjordanland. Viele israelische Armeeposten, die die Siedler schützten, werden ebenfalls geräumt. Aber Israel wird weiterhin die Kontrolle über die Grenzen des Gazastreifens haben, die Küste und den Luftraum, und wird sich das Recht vorbehalten in den Gazastreifen einzumarschieren. Im August soll die Räumung beginnen, mit einer fragilen Parlamentsunterstützung und angesichts einer tief gespaltenen israelischen Öffentlichkeit. Die orthodoxen jüdischen Siedler drohen mit dem Schreckgespenst des Bürgerkriegs. 60 Rabbis haben im Namen der Torah Soldaten befohlen, jeglichen Befehl zur Räumung von Siedlungen zu verweigern. Gush Emunim, “Der Block der Getreuen”, versuchte Sharon zu stürzen.

Zeitensprung
17. Juni 1970 – ein blutiger Tag in der franquistischen Sáhara Español
von Axel Goldau

Der 17. Juni 1970 sollte für die Menschen der Sáhara Español, der letzten Kolonie im Maghreb, zu einem geschichtsträchtigen Tag und für die franquistische spanische Kolonialherrschaft der Anfang vom Ende werden. Spanien dachte 1970 längst nicht im Traum daran, die Westsahara zu verlassen, die es bereits 1958 schlicht und einfach zur spanischen Provinz erklärt hatte.
Der schmutzige Kolonialkrieg, den Spanien zwischen 1956 und 1959 – z.T. zusammen mit Frankreich – mit dem Ziel der Vernichtung der autarken sahrauischen Nomadenwirtschaft geführt hatte, hat aus den meisten stolzen Herdenbesitzern bettelarme Habenixe gemacht, die nun in die Städte gezwungen sich bei der Kolonialmacht verdingen mußten.

ex libris
Rheinisches JournalistInnenbüro, Recherche International e.V. (Hg.), „Unsere Opfer zählen nicht“ – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Berlin/Hamburg 2005.
Von Ingrid El Masry, Norbert Mattes, Werner Ruf

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